Der Blick auf das Ganze

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Ein Dialog mit Blick auf das Quan Dao Sommercamp 2021

Frank Schumann und Michael Schmidt

Fotos: Saverio Tonoli 


Frank: Der Blick auf das Ganze erscheint in Zeiten wie diesen eher verstellt von einem alles beherrschenden globalen Thema – wir als Menschheitsfamilie blicken derzeit auf eine Pandemie - ein ´das ganze Volk betreffendes` Virus - welche seit mehr als einem halben Jahr quasi die gesamte globale Aufmerksamkeit bündelt. Dabei erscheint jene Fokussierung zunächst einmal eine gewisse Hilf-, Rat- und Ahnungslosigkeit hinsichtlich der neuen Herausforderung und des Umgangs damit zu offenbaren. Sie bringt die Erkenntnis ans Licht, dass derzeit keine wirkliche Antwort auf diese gewaltige neue Herausforderung existiert. Die alte sokratische Erkenntnis ´Wir wissen, dass wir nicht wissen` greift. Sie findet ihren unheilvollen Ausdruck in verbreitetem Gefühl von Angst und Besorgnis, aber auch einer Menge Wut. Und sie wirft eine Menge Fragen auf, welche zu beantworten derzeit niemand wirklich in der Lage ist. So erscheint der Umgang mit dem Unbekannten geprägt von verschiedensten Formen von Handlungen und Konsequenzen, welche mitunter zu zahlreichen Verwerfungen und Spaltungen innerhalb der menschlichen Gesellschaft führen.

Zudem zeichnet sich ab, dass das bisher so erfolgreich bewährte Vorgehen des rationalen wissenschaftlich-forschenden ´in die Tiefe-Blickens` und dadurch Erkennens sowie Lösungen-kreierens vermeintlich nicht zielführend sein wird. Zumindest derzeit offensichtlich nicht in dem Maße, wie es der Vorstellung menschlicher Beherrschbarkeit von (Um-)Welt überwiegend entspricht. Die postmoderne globalisierte Welt  wird womöglich kein adäquates Mittel entwickeln können, welches dieser und vielleicht folgenden Herausforderungen erfolgreich im Sinne menschlicher Definition begegnen wird.

Da sei die Frage bzw. Überlegung erlaubt, ob es nicht auch eine Option sein könnte, den Blick zu weiten, auf das Ganze…?! Doch was bedeutet das eigentlich ´das Ganze`? Wo und was ist das Ganze? Wer definiert das Ganze als Ganzes? Wie lässt sich das Ganze eigentlich als Ganzes identifizieren? Und wer ist es, der da blickt? Und aus welcher Position sowie aus und mit welcher Haltung? Wer ist dazu berufen, zu blicken? Wohin soll das Ganze denn dann überhaupt führen? Und wer führt bzw. soll überhaupt wer führen? Hat das Ganze einen Plan oder gar einen Sinn? Was hat das Ganze überhaupt mit uns, mit jedem Einzelnen zu tun?

Überhaupt zunächst mal Fragen zu stellen, könnte bereits Teil der Antwort sein. Den Geist zu öffnen und zu weiten, Begrenzungen wahrzunehmen, sie jedoch nicht als Begrenztheit zu manifestieren. Zu entdecken, wer oder was führt und was oder wer folgt, sowie zu erforschen, ob sich das überhaupt voneinander trennen lässt bzw. zu trennen sinnig ist. Mich als Teil des Ganzen zu entdecken und das Ganze als Teil in mir – wer trennt und weshalb? Bedeutet ´ganz` sein ´heil` sein und bzw. oder kann es dazu beitragen? Was kann ich dazu beisteuern, mich als Ganzes zu spüren und wahrzunehmen? 

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Michael: Das Ganze hat selbst eine Stimme, eine Botschaft, eine Sprache und einen Sinn. Die eigene innere Stimme kann mit dem Ganzen kommunizieren. Dies kann geschehen, wenn wir uns diesen inneren Dialog erlauben. Ich kann das Ganze fragen, ob ich mit ihm sprechen kann und dann zuhören und lauschen. Das ist eine Form der Meditation, die direkt ins eigene Herz fließt, denn das Ganze berührt unmittelbar unser Herz. Das Ganze und unser ganzes Herz sind eins, denn aus dem Ganzen wird niemals jemand rausfallen oder vergessen, genau wie in unserem Herzen. Im Herzen ist für alle gesorgt. Doch ohne den inneren Dialog bleibt das Ganze verborgen hinter dem ständigen Angst-Druck des Egos. Das ist der Hintergrund für unsere Dialogarbeit im Quan Dao. 

´Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.`  Dieses sehr bekannte und viel zitierte, teils auch leicht sozialromantisch anmutende Zitat betont die genannte Eigenschaft des Herzens, das Wahrgenommene sozusagen ganzer, vollkommener zu machen. In Bezug auf die Kultivierung meines Kung Fu könnte das bedeutsam sein für das Miteinander in mir – ein Dialog der Sinne und des Herzens zugleich, um dadurch ganz da zu sein, im Präsens – und mir dessen dann auch bewusst. 

Auf dem Quan Dao Kongress 2009 auf dem Sensenstein, wo das Thema der „Kraft der Mitte“ unser Fokus war, übten wir uns im Turnierkampf in dem das Ganze das Gelingen des Kampfes bestimmte. Nicht nur Ich, nicht nur Du, sondern das Ganze des Kampfes war entscheidend. Damit betraten wir eine innere und äußere Dialogwelt, die über die binäre Logik des Ich oder Du weit hinausreichte. Das Dreieck von ´Ich – Du – Wir alle` bestimmte das Setting. Wir konnten unseren Blick weiten über den Einzelnen und die Gegnerschaft (Ich-Du) hinaus auf die große Kreation, in der alle gewinnen. Beide Gegner waren geborgen in einer gemeinsamen Absicht und dieser gemeinsamen Absicht wohnt ein Wille inne, der über die Einzelnen und ihre Polarität hinausführt.

Der Blick auf das Ganze verbindet innen und außen, Vergangenheit und Zukunft im gegenwärtigen Augenblick. Wir sind einfach Teil des Ganzen und gleichzeitig Schöpfer*in. Da die Schöpfung nicht hervorhebt und nichts unterdrückt, sind die Toten ebenso bedeutsam und sinnhaft wie die Lebenden, sind die Guten ebenso wesentlich wie die Schlechten. Die Schöpfung, das Ganze bewertet nicht - es ist. 

So werden wir nur mit dem Blick auf das Ganze mit einer Pandemie zurechtkommen, in der alle gewinnen oder verlieren. Wir können nicht gegen einen Virus gewinnen. Wir können zum Wohl des Ganzen mit ihm umgehen und uns der Herausforderung durch die Intelligenz des Lebens stellen.

Also die Frage, ob es angezeigt sein könnte den Blick auf das Ganze zu weiten, ist aus der Perspektive des Weges der Quelle eindeutig: die Quelle braucht nicht nach dem Weg zu fragen, sie ist die Quelle. Und sie ist der Fluss des Ganzen und durch den Blick auf das Ganze wird sie sichtbar und sieht sich selbst.

Frank: Spannend ist der Blick auf das Ganze auch hinsichtlich des Aspektes der Vollkommenheit – ist mein Kung Fu ganz? Bin ich ganz, wenn ich perfekt bin oder ist Perfektion nicht nur Illusion und Ganz-Sein dann trotzdem möglich?  Bin ich als Quan Dao-Krieger*in gut (genug) – „wie gut ist mein Kung Fu“? An welchem Punkt des Könnens kann ich von (Kampf-)Kunst reden und kann dazu bzw. zu mir stehen? Was gilt es an meinem Können zu optimieren, dass es ganz ist und braucht es dazu nicht doch jemanden, der das im Blick und zudem die ´Autorität` hat, dieses zu bewerten, um der Quelle dann den Weg zu bahnen? Braucht es eine äußere ´Autorität` oder Führung und wenn ja wieviel? Oder bin ich mir selbst mein*e Meister*in? Was hat Meisterschaft überhaupt mit dem Ganzen zu tun? Ist jede*r Krieger*in zur Meisterschaft berufen?

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Michael: Oh, wie Jesus Worte da hindurchklingen: „Viele sind berufen, doch wenige sind ausersehen.“ (Matth.22,14). Es sind nicht die Schnellen, die Hektischen, die Getriebenen von Erfolg und Gier, die das Ziel erreichen. Es sind die, die sich die kleinen Schritte zumuten, die wissen um ihre Unvollkommenheit und dadurch ihr Herz für sich selbst geöffnet haben, die zum Ziel gelangen. Es sind nicht die mit der besten Ausstattung und Talenten, sondern die, die sich pflegen, die um die Kostbarkeit des Lebens wissen und dadurch das Leben selbst verkörpern und auf die Stimme des Herzens hören. Diese christliche Botschaft rauscht durch den Sound der Quelle und ist die Basis von Kung Fu. Vielleicht sind wir einen Augenblick irritiert und fragen: Was hat das mit Kung Fu zu tun?

Kung Fu heißt geschickt mit den Fähigkeiten umzugehen. Wer davon viele hat, braucht wenig und wer daran mangelt, der*die braucht viel um die Kunst des Weges zu durchdringen. Es geht nicht um Perfektion. Vielmehr geht es um das richtige Maß, um die richtige Dosis. Wer sich ständig übertrainiert, wird daran erkranken und wer sich hängen lässt, wird wirkliche Schwäche niemals erkunden und die eigene Stärke nie kennenlernen. Wer sich hängen lässt darf ganz in das Hängen eintauchen und erforschen wie es ist ganz loszulassen. Das ist der Weg der Quelle. Wer sich übereifrig übertrainiert und ständig den Ernstfall probt, wird soweit gehen müssen, bis er*sie zusammenbricht und aus der Tiefe den Höhepunkt erkennt. Das ist der Weg der Quelle. Die Quelle fließt durch jede Position, die eingenommen wird. 

360 Grad sind angesagt: jede Perspektive will durchdrungen und durchflossen werden. Das ist der Weg der Quelle. Und dafür ist jede*jeder gut genug. Es reicht aus, ein Mensch zu sein. Mensch-Sein, das bedeutet das Können zu optimieren. Daher ist eine Quan Dao Ausbildung auf das Ganze des Menschen gerichtet, nicht bloß auf Technik oder das schnellste „Hau-Drauf“. Technisches Training ist dazu da, den Energiekörper zu erkennen. Das bedeutet das Ganze im Blick zu haben und in das große Herz einzutreten, aus dem niemand und keine*keiner rausfallen kann. Wer beherzt übt und trainiert, der*die übt mit dem Blick auf das Ganze. 

Mein Training weist mit dieser Perspektive über die Grenzen meines Egos (das ständig besser als die eigene Begrenztheit sein will, oder vor den eigenen Grenzen zurückschreckt) hinaus und beginnt in einem natürlichen Anfängergeist zu gründen. Und der ist wach, neugierig und frisch, so als würde das Phänomen des Todes das erste Mal ins Bewusstsein treten. Ein plötzliches Erkennen der Endlichkeit und das Eintreten in eine Haltung der Demut ist der Bewusstseinsstrom, in den die Quelle mündet. Das demütige Üben öffnet die Tore zur Weisheit der Quelle und damit die Tore zu angemessener Technik aus dem Augenblick, aus dem Momentum, durch das die Quelle spricht. 

Quan Dao Kung Fu stellt keinen Schutzkokon aus Selbstgefälligkeit in der Macht von Stärke her. Quan Dao Kung Fu fließt durch jede Landschaft des Reiches der Bewegung. Besitz von irgendetwas oder von irgendeiner Fähigkeit schafft noch keine Autorität. Autorität besteht in der Bereitschaft zur Selbsterkenntnis im Augenblick der Begegnung. Autorität ist fest an die Verwirklichung von Präsenz, von Gegenwärtigkeit geknüpft. Meisterschaft im Quan Dao Kung Fu besteht in der Fähigkeit zur Präsenz und damit zum Mut, dass „das Leben mir zeigen darf, was Leben ist“ (Meister Teck Cheng Neo). 

Und so kann es auch keinen Schüler ohne Meister geben. Selbst die Shaolin Mönche und Kung Fu Meister, all unsere Ahnen in der wahren Kampfkunst haben ihren Meister gefunden. Ob Gottesanbeter, Frosch, Spinne, Tiger, Affe oder Bambus, Weide, Wasser oder Mensch – das Leben selbst ist der Meister der Meister. Und diese Meisterschaft kann nur auf Dich wirken, wenn Du bereit bist jemand anderes anzuerkennen als Quelle von Kraft und Inspiration und dialogischer Erfahrung. Wer einen Meister gefunden hat, der findet den Meister in sich. Zunächst führt der Weg zur Quelle und angekommen führt die Quelle durch Dich/Mich/Alle. 

Unsere Präsenz, die Kraft der Gegenwart fließt zunächst durch unseren Körper. Der Körper kann nicht lügen, er zeigt was ist und was nicht ist. Daher ist Körperarbeit unerlässlich für unser bewusstes Sein. Das heißt für mein Quan Dao Kung Fu, dass ich mich dazu autorisiere und auch optimiere auf meinen Körper zu hören, ihn zu erforschen und seine Weisheit zum Ausdruck kommen zu lassen. Work out! Ja, hole aus Dir heraus, was da ist. Schaue und lausche in und auf den Körper, spüre nach was da ist. Der Körper ist mein Meister des Dialogs. Er antwortet, wenn ich ihn frage. Der Puls des Lebens im Körper – das Herz – kennt nur Wahrheit, hat immer das Ganze im Blick. Geist ruft nach Verkörperung, wie der Körper nach Geist ruft und begeistert sein will. Das ist Optimierung durch den Weg der Quelle. Wir holen das Beste aus uns heraus, in dem wir uns das Ganze samt all seinen Dämonen zumuten.

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Frank: Um den Kreis hier zu runden – in Zeiten wie diesen erscheint es sinnvoll und wird auch so bestimmt, dass jede*r Einzelne das Ganze im Blick haben möge, ein jede*r durch sein Handeln dem Großen und Ganzen dienlich ist, den*die Einzelne*n zu schützen. Verbundenheit und Solidarität sind gefordert und der*die Einzelne möge sich dazu in seinen Bedarfen unterordnen. Die Verantwortlichkeit im Handeln ist von jedem*r Einzelnen gefragt, mit Blick auf das Ganze im Sinne gesamter menschlicher Gesellschaften – wie kann dieses gelingen, wo meine Kontaktmöglichkeiten und mein gewohnter Bewegungsraum v.a. körperlich eingegrenzt werden? Viele empfinden sich augenblicklich als isoliert und erleben sich getrennt von Gemeinschaft. Was kann zum Gelingen beitragen, ein Gefühl von Verbundenheit mit dem Ganzen unter diesen Bedingungen zu erhalten bzw. ggf. zunächst mal zu kreieren? Was kann ich als Krieger*in dazu beitragen bzw. wie gelingt es mir als Krieger*in zunächst mal, mein eigenes Bewusstsein, Quelle zu sein, d.h. Verbindung zu dieser zu halten und nicht ´nur` Wasser das ´so da hinfließt` zu sein, zu aktivieren und dieses Bewusstsein zu kultivieren? Das Bewusstsein darüber, Quelle zu sein, könnte doch Vertrauen in mir wachsen lassen, dass der Weg sich mir als bewegende*r Beweger*in unter die Füße legt?! Vertrauen ist da sicher ein wichtiger Aspekt – vertrauen in das Ganze, auf das Ganze, dass im Großen und Ganzen alles (auch derzeit) einen Sinn hat, auch wenn ich als Einzelne*r diesen vermeintlich grad nicht wirklich zu erkennen vermag. Wer weiß wofür es gut ist? Besonders angesichts des Wissens darum, dass ich nicht weiß. „Die Nichtwissenheit wissen ist das Höchste. Nicht wissen, was Wissen ist, ist ein Leiden. Nur wenn man unter diesem Leiden leidet, wird man frei von Leiden. Dass der Berufene nicht leidet, kommt daher, dass er an diesem Leiden leidet; darum leidet er nicht.“ (Tao Te King, Kap. 71)

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Die Magie der Acht